Montag, 31. Januar 2011

Interview mit einem Praktikanten

Wann und warum bist du zum Rettungsdienst gegangen?
Ich hab den Freiwilligen-Wochenendkurs im September 2010 begonnen. Größtenteils durch die Empfehlungen meiner beiden besten Freunde, die durch den Zivildienst auch dabei sind.
Inzwischen kann ich mich endlich an den Unterhaltungen über den Rettungsdienst beteiligen und nicht nur mehr zuhören und nicken.
Außerdem war es eine gute Gelegenheit die Sinnlosigkeit des Präsenzdienstes beim Bundesheer irgendwie wieder wettzumachen.

Warum bist du geblieben?
Ich bin gekommen um zu bleiben, ich geh nicht mehr weg...

Wann fühlst du dich richtig gefordert?
Wenn ich um halb 4 in der Früh zum nächsten Blau-Einsatz unterwegs bin und mir die Energydrinks ausgehen.

Was nervt dich an unsrem Rettungssystem oder deiner Organisation?
So lang bin ich noch nicht dabei, dass ich mich groß aufregen kann, aber meiner Meinung nach könnte man sich mehr um die ehrenamtlichen Mitarbeiter "bemühen"
Funktionierende Elektronik wär auch ein Traum.

Gibt es Personen in deinem Job, die dir ein Vorbild sind – wenn ja, wer/warum?
"Vorbilder" sind wohl meine heiß geliebten Einschuler, die mich tagtäglich mit Unmengen von Wissen überschütten, um mich zu dem Supersani zu machen den die Welt dringend braucht.
Und Batman.

Wenn jemand dir erzählt, dass er auch die Sanitäterausbildung machen möchte, was würdest du ihm sagen?
Natürlich das er/sie das durchziehn sollen. Inzwischen hab ich eh schon fleißig Werbung gemacht... mit Erfolg,
aber vielleicht bin ich auch noch viel zu kurz dabei um die "Schattenseiten" ausreichend kennengelernt zu haben

Sollten Frauen auch Zivildienst machen müssen?
Um es schön zu formulieren; Ja, ich bin für ein verpflichtendes Sozialjahr das sowohl Burschen als auch Mädels absolvieren sollten.
Das ist nicht nur ein leiwander Dienst an der Allgemeinheit, sondern auch eine fertige Berufsausbildung auf die man wieder zurückgreifen kann.

Abschließend: Lieblingsnotfall/-notruf/-krankheitsbild?
Am "interessantesten" waren bis jetzt wohl die Alkohol-Intoxikationen; aber worauf ich immer noch voller Hoffnung warte, ist irgendwas schönes unfallchirurgisches.

Freitag, 28. Januar 2011

Rollenverteilung im Team

Zumeist ist man ja im Dienst zu zweit, respektive zu dritt. Beim Patienten bleibt oft nicht allzu viel Zeit um sich zusammenzusetzen, ein Brainstorming zu machen und dann zu entscheiden was wohl die beste Maßnahme wäre um dem Patienten zu helfen - da muss die Entscheidung, ob man einen Arzt hinzuzieht, recht rasch getroffen werden und man muss einander vertrauen, dass das die richtige Entscheidung ist. Dieser Passus ist im übrigen kein MUSS, sondern gibt lediglich die Art und Weise wieder, wie ich mir das Leben im Einsatzfall leichter mache.

Die Rollenverteilung im Team lässt sich grob gliedern wie folgt:

Der Denker ("Transportführer"):
Er bewertet die Situation, gibt Anweisungen, trifft die Entscheidungen und kontrolliert die korrekte Ausführung. Mit einem Auge betrachtet er alles was passiert, mit dem anderen Auge bleibt er beim Patienten um gegebenenfalls reagieren zu können.

Der Henker:
Er führt aus. Wichtig ist hierbei wieder die eigene Kompetenz zu kennen. Wenn man schon länger nicht mehr Blutdruck gemessen hat, wäre es wohl besser nicht erst am Patienten zu üben sondern vorher oder nacher einen Kollegen als Versuchskaninchen heranzuziehen. Das sollte er dann aber auch zugeben können und nicht wie in der Lotterie mit Werten herumjonglieren, die das Attribut "fantastisch" nur aufgrund ihres Wortstammes verdient haben.


In der Praxis heißt das also:
Man ist nicht automatisch immer und überall bis ans Dienstende Denker oder Henker. Die Talente sind unterschiedlich verteilt. Der eine ist bei internen Notfällen sattelfester, der andere hat dafür wiederum ein besseres Händchen mit Kindern. "Gute Zusammenarbeit" bedeutet auch - oder "vor allem" - zu wissen, worin man gut ist und ob man mit der Situation umgehen kann. Wenn ich sehe dass mein Kollege die Patientin nur anschaut und sofort checkt was Sache ist, was zu tun ist und wo das Problem liegt, werde ich mich hüten ihm ins Handwerk zu pfuschen, sondern lediglich rückfragen wie ich ihm noch helfen kann und was er neben dem Basis-Programm weiter benötigt.

Wer bestimmt also, wer "Denker" ist? Nun, am leichtesten lässt sich diese Frage mit "die Situation" beantworten. Ich hatte auch schon Praktikanten oder Zivildiener dabei, die dermaßen souverän agiert haben, dass ich mich im Hintergrund gehalten habe und sie möglichst selbstständig habe arbeiten lassen. Bei Rückfragen war ich für sie da, wenn Sie Vitalparameter benötigen erhebe ich diese und wenn ich sehe dass noch etwas zu tun ist, tue ich es selbstständig. Es ist also keine Frage von Dienstjahren sondern lediglich von Gespür für die Situation und die Menschen, die dabei sind.

Ungereimtheiten vor dem Patienten (oder anderen Personen) auszutragen ist ein No-Go und wenn ich nicht fest davon überzeugt bin, dass eine Entscheidung zu Lasten des Patienten oder des Teams gefällt wird, mische ich mich auf keinen Fall ein, gebe bestenfalls einen Einwand kund und will schnell wieder Einigkeit herstellen.

Unter'm Strich lässt es sich so zusammenfassen, dass wir - so kitschig das auch klingt - füreinander da sein müssen und uns gegenseitig den Rücken freihalten. Selbstdarsteller (siehe "Rettungsrambo") sind hier fehl am Platz und werden weder den Patienten, noch die Kollegen, die Organisation oder - und das ist das Schlimmste - sich selbst zufrieden stellen. Die Qualität der Arbeit leidet unter dem Profilierungsdrang des Einzelnen.

Hier kommt auch der Punkt "Vertrauen" ins Spiel.
Einen massiven Nachteil, den der Rettungsdienst gegenüber Feuerwehr und Polizei hat, ist die enorme Fluktuation an Personen. Man hat nicht automatisch immer das gleiche Team. Oft kommt man (gerade als Praktikant) zu zwei vollkommen fremden Personen, deren Kompetenz und Arbeitsweise man nicht kennt. Dennoch sollte man ihnen Vertrauen können, was verständlicher Weise nicht immer ganz einfach ist. Aber umso wichtiger sind die sog. "Soft-Skills", die da besagen dass ich mich in ein bestehendes Team einordnen kann, oder eben erkenne wo mein Platz ist - und dass ich demjenigen, der mir aufs Auto zugeteilt wird, eine Chance gebe sich zu beweisen.
Wenn ich also nicht gerade die Superlative der Inkompetenz vor mir habe, dann vertraue ich den Leuten einfach. Und das ist eine ganz wichtige und vielfach unterschätzte Eigenschaft, die für die Zusammenarbeit im Team von essentieller Bedeutung ist.

Schlussworte:
Arbeitet ordentlich, aber vorallem: Arbeitet zusammen.

Freitag, 21. Januar 2011

T4

Letzthin ist es mir wie die Schuppen von den Augen gefallen: Wir könnten doch wieder Mal T4 fahren. Für alle normalen Menschen: T4 ist die Typenbezeichnung der VW-Rettungsautos. Die neueren Modelle (nämlich der T5) sind heiß umkämpft und die Augensterne der zitternden Fuhrparkleitung, die um jeden dieser Schätze bangt. Die T4s hingegen geraten in Vergessenheit und eigentlich will auch niemand mehr damit fahren. Aber jüngst ist es eben über mich gekommen und ich habe unserem Praktikanten freudestrahlend gesagt: „Georg, halt dich fest: Wir fahren T4!“. Der konnte meine Freude angesichts des Anblicks von FW370 nicht teilen. Ich hingegen war umso euphorischer und habe lang und breit die Vorzüge dargelegt und mich mit unserem Fahrer den Schwärmereien à la „Weißt du noch, damals,…?“hingegeben. Allen voran sind da die viel (!) größeren Fenster von Fahrerkabine zu Patientenraum. Dann natürlich die schnittige Aerodynamik. Überhaupt ist alles auf „keep it safe and simple“ runtergeschraubt. Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass es nun mal kein schönes Auto ist. Und auch kein schnelles. Und auch kein bequemes. Aber sie sind zuverlässig und nahezu unzerstörbar. Man kommt leichter um Kurven, man passt schneller mal wo durch als mit diesem Riesenkübel T5 und auch die rotzgelbe Farbe hat natürlich Kult-Faktor. Und immerhin haben die ja auch schon Radios – da gibt’s doch nix zu meckern!

willhaben.at - wie treffend :)

Ausschlaggebend für meine wieder gewonnene Liebe zu diesem Modell war das Erlebnis während eines Nachtdienstes, wo wir drei T5 reklamieren mussten, da einer vorbestehend defekt (also „nicht einsatzbereit“ – NEB) war, einer eine kaputte Kupplung hatte die dafür gesorgt hat dass es extrem nach Rauch gestunken hat. Beim dritten hat das Schalten manchmal nicht geklappt und man musste den zweiten Gang überspringen. Alles in allem also eine „Bauchweh-Partie“. Wäre das mit einem T4 passiert? Natürlich nicht. Zum einen hat man beim Anblick des T4s nur einen Gedanken, nämlich: Wenn das Ding fährt, haben wir schon gewonnen. Zum anderen geht da ja auch nur etwas durch Altersschwäche kaputt. Und diese T4s sind zähe Hunde!
Für mich war es also ein Hochgenuss mit dem wunderbaren FW370 zu fahren. Der Patientenraum ist in unter einer Minute warm, wenn man zu dritt am Auto ist kann man viel besser interagieren. Es gibt keinen Komfort aber das was es gibt funktioniert quasi einwandfrei und ohne dass ich Sorge haben muss gleich eine chique Plastik-Applikation in der Hand zu haben, bloß weil ich die Schiebetür zusätzlich zum Griff auch noch an der Säule seitlich des Fensters gehalten habe um sie zuzuziehen.
Insofern, lieber Georg, wird vielleicht auch für dich irgendwann der Tag kommen wo du wehmütig seufzest und sagst „Puh, also ich kann mich ja noch an Zeiten erinnern, wo wir mit einem T5 auch noch mehr als glücklich waren, weil diese neumodischen T6 sind ja vielleicht chique aber unpraktisch…!“ Oder so ähnlich.

Dienstag, 18. Januar 2011

Schweigepflicht vs. Selfmade-Supervision

Alles, was im Umgang mit dem Patienten passiert, gesagt oder gemacht wird, unterliegt der Schweigepflicht. Ärzte, Polizei und eine Hand voll anderer Auserwählter sind hiervon sinnvoller Weise ausgenommen. Sobald aber kein Name oder sonstige Daten genannt werden, die bewirken dass ich durch die weitergegebenen Informationen sofort weiß um wen es sich handelt, greift die Schweigepflicht nicht mehr. Nun gibt es hier diesen Graubereich, in welchem Sanis sich gegenseitig im Aufenthaltsraum die tollsten Geschichten erzählen, Superlative hin und her werfen und je derber, desto lieber. Nachdem hier keine Geburtsdaten oder Namen genannt werden, ist das also legal. Ob es moralisch in Ordnung ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.
Es gestaltet sich nun so dass es natürlich KIT, PEER und Supervision gibt – aber mal ehrlich, wer gibt denn freiwillig zu dass er mit dem erlebten alleine nicht mehr fertig wird und daher Hilfe benötigt? Das ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft und wer Patientenkontakt hat, versteht sie.
Sieht man also zwei Sanitäter die sich treffen, werden sofort die Räubergeschichten ausgepackt und der verbale Schwanzvergleich beginnt. Stehen dann vielleicht noch Bekannte daneben, kann man beobachten wie von Geschichte zu Geschichte die Gesichtszüge der umstehenden Menschen immer mehr entgleisen, angesichts der vermeintlich menschenfeindlichen Einstellung und der abschätzigen Aussagen.
Ich kann hier nur zur Nachsicht aufrufen. Sanitäter zu sein heißt, sich zu einem großen Teil im sozialen Bodenlurch zu bewegen. Ständig mit vor sich hinsterbenden Greisen, vernachlässigten Kindern und sonstigen emotional durchaus belastenden Fällen zu tun zu haben schreit förmlich danach, in irgendeiner Form Distanz zu diesen Erlebnissen zu suchen. Und dann soll man genau das, was einen so belastet, einem fremden Menschen erzählen, der zwar eine Peer-Ausbildung, aber noch nie einen bettlägrigen Menschen aus einem Hospiz geholt hat? Mit nichten.
Ich persönlich kann jemandem, der noch nie in vergleichbaren Situationen war, überhaupt nichts von meiner Aufregung, meiner Sorge oder meiner Angst erzählen. Da bevorzuge ich den Kaffee oder das Bier nach dem Dienst um mit einem Kollegen gemeinsam darüber zu reden, zu lachen oder zu schimpfen. Es ist die einzige Form von „Distanz dazu bekommen“, die für mich anwendbar und hilfreich ist.
Und es sind auch nicht die zerfetzen Gliedmaßen oder sterbenden Menschen, die einen Nachts nicht schlafen lassen oder über die man immer wieder in den eigenen Gedanken stolpert. Es sind die Menschen, in deren verkorkstes Leben wir kurz blicken, ihnen zehn Minuten lang zusichern dass es schon wieder werden wird und die wir dann wieder sich selbst überlassen müssen, ohne auch nur ansatzweise etwas sinnvolles für sie tun zu können. Es sind die alten Menschen auf der Bettenstation und in Altersheimen, die von ihren Pflegern schlecht behandelt werden, die Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt werden und die Menschen, die jede Kontrolle über sich und ihr Leben verloren haben.
Einer meiner Praxisanleiter ist nun Feuerwehrmann und als wir uns letzthin getroffen haben, haben wir über die gute alte Zeit geplauscht und natürlich die ganzen Geschichten hervorgekramt. Als er mir aber von seinen aktuellen Einsätzen erzählt hat, habe ich ihn gefragt, ob denn wenigstens bei der Feuerwehr eine sinnvolle Form der Supervision angeboten wird. Es hat ihn ein müdes Lachen gekostet und folgende Beschreibung: „Wenn uns etwas belastet, gibt es da einen Automaten, in den wirft man zwei Euro. Dann kommt eine Hand raus, klopft einem auf die Schulter und sagt ‚wird schon wieder!’. Wenn das nicht hilft, wirft man noch Mal zwei Euro rein, dann kommt sie noch Mal und sagt ‚so, jetzt musst aber allein damit fertig werden’.“

Donnerstag, 13. Januar 2011

Aus dem Verbandskästchen: Notfallromantik und Herzscheiße


Wenn man so viel Zeit inmitten von Sanitätern diverser Organisationen und anderen Menschen aus der Blaulichtszene verbringt – sei es dienstlich oder privat – bekommt man einen ganz eigenen Lifestyle. Für mich hatte das zur Folge, dass ich für jene Gesten, die gemeinhin als „romantisch“ oder „rührend“ interpretiert werden, so gar nichts mehr übrig habe. Ich mag eine direkte Art und wenn man unverblümt sagt was Sache ist. Aber fallweise gibt es sie, die Augenblicke wo mir ganz warm ums Herz wird und ich schmachtend Seufze, weil dieser kurze „Schwächemoment“ mich so verzückt hat:
# Der unverstellte Blick eines Kollegen, mit dem ich mein wieder gewonnenes Single-Dasein gefeiert habe, verschafft mir immer noch eine Gänsehaut am ganzen Körper. Zwar ist es schon einige Monate her dass wir diese Nacht miteinander verbracht haben aber der Gedanke an diese unverfängliche Zusammenkunft weckt immer noch schöne Erinnerungen, die ich mit einem Lächeln quittiere.
# Meinen Ex-Freund, mit dem ich dreieinhalb Jahre liiert war, habe ich bei einem gemeinsamen Ambulanzdienst kennen gelernt. Wir waren auf der gleichen Hilfsstelle eingeteilt. Ein Funkspruch kam herein, dass eine bewusstlose Person im Bereich 1. Rang Süd liegen würde. Wir sind gemeinsam hingelaufen, haben den Kerl aus den Sitzreihen gezogen und auf die Trage verfrachtet. Als der Patient sich übergeben wollte, hat mein Ex-Freund mich recht unfreundlich darauf aufmerksam gemacht, dass ich die Nierentasse halten soll. Nachdem der Patient abtransportiert wurde, habe ich ihm gesagt dass er ein Idiot ist und sich auf seine unfreundliche Art gar nichts einzubilden braucht. Tags darauf sind wir miteinander Essen gegangen und noch einen Tag später sind wir bei ihm auf der Couch gesessen und haben „Butterfly Effect“ geschaut. Um 23 Uhr wollte ich gehen und er hat gefragt, ob ich nicht noch 10 Minuten bleiben will. Um 23.30 Uhr habe ich gesagt dass ich jetzt aber wirklich gehen muss. Nachdem er noch zwei Mal erfolgreich Überzeugungsarbeit geleistet hat und die öffentlichen Verkehrsmittel ohnedies längst nicht mehr gefahren sind, habe ich bei ihm geschlafen. Wirklich nur geschlafen. Ohne Coitus. Von da an waren wir zusammen.
# Auch wenn ich mich sehr sattelfest fühle, freue ich mich doch wenn ich bei einem Transport oder einem Einsatz nicht an meine mentalen und fachlichen Grenzen gehen muss, sondern einfach entspannt mit einem Patienten plaudern kann um ihm die Zeit zu vertreiben. Einer dieser Patienten ist mir gut in Erinnerung geblieben. Wir haben ihn nur zum Ausschluss einer Fraktur auf eine Unfallchirurgie gebracht. Auf der Fahrt dahin hat er mir den einen oder anderen Schwank aus seinem Leben erzählt. Und dass all seine bisherigen Krankheiten und Verletzungen gegen die Unannehmlichkeiten, die er jetzt hat, verblassen. Das haben wir in einer Endlosschleife während der ganzen Fahrt gehört. Weil ich aber immer noch recht viel Empathie besitze, verstehe ich diesen Umstand und habe mich mehrfach für eben diese unschöne Situation, die lange Wartezeit und die holprige Fahrt und überhaupt alles, was irgendwie gerade einfach blöde war, entschuldigt und versucht ihm glaubhaft zu versichern, dass die Heimfahrt sich weitaus angenehmer gestalten wird weil dann ja auch schon die Schmerzen besser sind. Als wir dann endlich im Krankenhaus angekommen sind, haben wir den Herrn aus dem Auto gehoben und er ist beinahe ohnmächtig geworden weil ich an der Hebe-Aktion beteiligt war und meinte, das könne doch nicht sein dass eine Frau schwer heben müsse und und und. Auf meinen Einwand hin dass ich genau die gleiche Arbeit leiste wie meine Kollegen und so emanzipiert bin, dass ich Extrawürsteln verweigere, musste er einfach lachen und meinte er hätte so etwas noch nie gehört. Vom Auto zur Erstuntersuchung war er dann sehr ruhig, geradezu in sich gekehrt. Wir haben ihn den Ärzten übergeben und gerade als ich mich verabschieden wollte, greift er meine Hand, sieht mich an und sagt „Schönes Kind, wenn ich ein paar Jahre jünger und Sie ein paar Jahr älter wären, dann würde ich sofort nach Ihrem Namen fragen und verlangen, dass wir einander wieder sehen. Weil ich aber ein alter Trottel bin und die Zeit nicht ändern kann, möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken dass Sie sich so um mich bemüht haben. Es war eine Freude von Ihnen begleitet zu werden und wenn man mir verspricht, dass ich wieder so eine bildhübsche Zivildienerin bekomme, dann freue ich mich schon auf den nächsten Teppich, der mich zu Fall bringt.“ – Ja, er hat tatsächlich „Zivildienerin“ gesagt.
Ärzte und Schwestern sind glotzend daneben gestanden als dieser nette, alte Mann mit der riesigen Brille auf der Nase meinen Arm durchgeschüttelt hat um seine Dankbarkeit auszudrücken. Es sind sehr seltene Momente, in denen sich Patienten auf diese Weise erkenntlich zeigen und mir bedeutet das auch selbst nach fünf Jahren immer noch sehr viel wenn jemand sich nur durch mein Zureden schon besser fühlt.
# Wenn man viel mit Männern – gerade in dieser Branche – zusammenarbeitet, darf man keine Hemmungen vor derben Witzen haben – man muss aber die Balance finden, dabei noch eine Frau zu bleiben. So trug es sich zu, dass ich mit einem meiner Kollegen, mit denen ich gerne Dienst mache weil wir nahezu den gleichen Humor haben, wieder das Niveau Limbo tanzen ließ und wir haben anstößige Bemerkungen gemacht, die glücklicher Weise kein Außenstehender gehört hat. Während der Fahrt haben wir gemeinsam zu den Guano Apes gepogt und gemosht. Und wenn man dann mit einem Transport fertig ist, raucht man klassisch noch eine Zigarette bevor es weitergeht. So auch bei uns. Ich bin im Windschatten der offenen Beifahrer-Türe gelehnt und habe diesmal bei der Verteilung der Zigaretten dankend abgewunken und aufgrund meiner Müdigkeit sinnentleert in die Ferne gestarrt. Mein Kollege stand neben mir und meinte plötzlich „Schau nicht so billig, so kauft dich ja keiner!“. – „Macht nichts, ich hab’s so nötig dass ich eh kein Geld dafür verlangen könnt!“. Und plötzlich, aus heiterem Himmel, schlingt dieser bösartige Mensch, vor dem ich bis vor kurzem noch eine Mischung aus Ehrfurcht und Angst hatte, seinen Arm um meine Schultern, drückt mich, küsst mich auf die Wange und sagt „du bist schon extrem in Ordnung, so wie du bist“.

Dienstag, 11. Januar 2011

Interview mit einem Sanitäter

Wann und warum bist du zum Rettungsdienst gegangen?

Jänner 2005 - Wegen dem Zivildienst.

Warum bist du geblieben?

Die Arbeit macht Spaß. Es gibt selten Berufe, in denen man so viel Abwechslung hat, wie im Rettungsdienst. Man lernt neue Zivildiener kennen und befreundet sich mit diesen… was dann auch lange hält. Man macht etwas Sinnvolles für die Bevölkerung. Man genießt (zwar nicht mehr so wie früher) einen gewissen Respekt in der Öffentlichkeit. Wirklich interessant ist es, wenn man zu einem Patienten kommt, der einfach nicht weiter weiß, und man während des Gesprächs und dem Transport in ein Spital, merkt, wie es ihm langsam besser geht, allein nur durch zuhören, zureden und Verständnis zeigen.

Wann fühlst du dich richtig gefordert?

Würde ich jetzt „nie“ schreiben, würde ich lügen… Gefordert bin ich eigentlich nur, wenn es um die „richtige Handhabung bei Psychosen“ geht, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Reanimation, Amputationen, Polytraumen und Schockzustände sind zwar schwierig und umfangreich zu behandeln, wenn man aber mit einer gewissen Routine und Ruhe arbeitet, ist alles davon „leicht“ zu bewältigen.

Was nervt dich an unsrem Rettungssystem oder deiner Organisation?

Wenn man das Wiener Rettungssystem mit dem „am Land“ vergleicht, sind wir eigentlich nur ein besseres Taxi. Jeder ruft wegen Kleinigkeiten die Rettung und erwartet sich die „achsogute“ Wunderheilung. Ländlich fährt die Oma ohne Führerschein den Opa mit einem akuten MCI immer noch selbst ins nächste Spital… der ASB im ganzen gesehen ist eigentlich eine der besten Organisationen, auch wenn jeder darüber meckert.

Ein paar Worte zu einer Interaktion mit einem Patienten, die dir nachhaltig in Erinnerung geblieben ist?

Wir sind mit einer 26-A-1 Berufungsdiagnose (keine Notfallsymptome, erkrankte Person) in die klassische Nobelgegend gekommen: Slums im Arbeiterbezirk. Eine ungepflegte Wohnung. Beim Reinkommen hätte ich um ein Haar den kleinen Hund zertreten, die ganze Wohnung war ziemlich abgefuckt. Zunächst dachten wir, die Frau, mit der wir uns unterhalten haben, sei die Patientin. Bis wir plötzlich Stöhnen aus dem Schlafzimmer hörten. Beim öffnen der Zimmertüre kam uns eine Duftwolke entgegen, die mich und meinen Zivildiener beinahe niedergeknüppelt hätte. In dem Zimmer lag in einer „Bettenburg“ ein kachektischer Mann in alarmierend schlechtem Allgemein- und Ernährungszustand. Überall lagen Decken und Handtücher auf ihm und unter ihm. Nach einem tiefen Zug des Sterilium-Geruchs und dem Versuch ein Anamnesegespräch zu führen, wurde uns klar dass dieser Mann seit mehreren Wochen nicht mehr aufgestanden ist, seine Notdurft daher auch stetig im Bett verrichtet hat und die Frau augenscheinlich mehr als überfordert mit der Situation war. Auf die Frage, wo denn die Frau schläft, meinte sie nur lapidar „Na, daneben natürlich!“ – …Natürlich.
Als wir versucht haben, den Patienten aus seinem Matratzengefängnis zu befreien, habe ich beim Anheben der Handtücher gesehen, dass sich die Haut mit ablöst. An mehreren Stellen hat er bereits zu verwesen begonnen, andere Bereiche waren regelrecht mit dem Untergrund und den Handtüchern verwachsen. Wir haben dann beschlossen ihn mitsamt dem Untergrund zu hospitalisieren. Trauriger Weise war der Hund das normalste Lebewesen in dieser Umgebung.
Bei der Ankunft im Krankenhaus haben sich mein Zivildiener und ich erstmal im Bereich des Eingangs übergeben, woraufhin der Portier zu uns gelaufen kam und uns schon schimpfen wollte was uns einfällt hier hinzukotzen – bis er vor dem Auto stand und auch er ein dezentes Näschen von dem Odeur aufnehmen konnte – und sich ebenfalls übergeben hat. Letztlich hat die komplette Abteilung dann mitgeholfen, den Patienten möglichst schonend vom Auto in das Krankenhaus zu bekommen. Die darauf folgende Intensivpflege des Autos dauerte mehrere Stunden. Als letzten Transport des Dienstes haben wir einen selbstständig gehenden Dialysepatienten bekommen, der beim Einsteigen in das Auto gefragt hat, ob da jemand verstorben sei, weil es immer noch so erbärmlich gestunken hat. Zehn Minuten und zwei vollgekotzte Nierentassen später konnten wir ihn in die Dialysestation entlassen und unseren Dienst beenden.


Gibt es Personen in deinem Job, die dir ein Vorbild sind – wenn ja, wer/warum?

Vorbilder zu haben ist schwierig… möglicherweise sind es einfach nur Menschen, die man wegen ihrer Art, wie sie mit Situationen umgehen, mehr respektiert als andere…

Wenn jemand dir erzählt, dass er auch die Sanitäterausbildung machen möchte, was würdest du ihm sagen?

Bevor du in Erwägung ziehst, in den heiligen Club der Sanis einzusteigen, sei dir darüber im Klaren, dass du mit abgetrennten Gliedmaßen, extremen psychischen Belastungen, unstillbaren Blutungen, schwierigen und verwirrten Patienten, schweißtreibenden Wandertagen mit liegenden Personen (+ 150kg) in den 7. Stock klar kommen musst. Du musst immer „ja“ und „Amen“ sagen, egal wer etwas will…. Kannst du damit leben, bist du richtig im Rettungsdienst

Sollten Frauen auch Zivildienst machen müssen?

Nein, aber sie sollten die Möglichkeit haben, einen sozialen Dienst auf freiwilliger Basis gegen Entschädigung machen zu dürfen

Freitag, 7. Januar 2011

Mr. Ulcus Cruris - “Tribute to Toni“


Ich kann mich noch sehr gut an meine erste Begegnung mit dem Toni erinnern. Er war nämlich nicht da. Hat die Wohnungstür offen gelassen und einen Zettel hingehängt, er wäre Zigaretten holen gegangen weil wir so lange gebraucht haben. Damals war ich sehr froh, denn ich habe von Toni allerhand Geschichten gehört. Toni hat epileptische Anfälle so authentisch vorgespielt, dass Leute, die ihn nicht kannten darauf reingefallen sind. Erst die Androhung von Polizei und Amtsarzt hat Toni wieder „gefügig“ gemacht, wenn man es so nennen möchte. Toni hat im Rettungsauto geraucht und Alkohol getrunken. Er hat Autos wegen seinen Randale-Anfällen ruiniert und Sanitäter, Ärzte und Polizisten einfach so attackiert. Frauen mochte er überhaupt nicht, weswegen ich die wenigen Male, wo ich ihn zu Gesicht bekommen habe, meistens außen vor war um ihn nicht aufzuregen. Obwohl Toni verlebt und ausgemergelt war, brauchte es zumindest fünf Leute von der WEGA um ihn zu bändigen, wenn er sich wieder einmal „gespürt“ hat und es wissen wollte.

Sanitätstechnisch kann ich von Toni also nicht viel erzählen, ich habe mich auch aufgrund seiner Antipathie Frauen gegenüber nie darum gerissen zu ihm zu fahren. Aber ein paar Fakten über ihn will ich hier nennen, nicht zuletzt deswegen, weil ich immer noch gerne wissen würde was in einem Leben passieren muss, dass man so wird wie er.

Toni war Mitte der 60er geboren. Er war Alkoholiker, Kettenraucher, Epileptiker, Junky, Misogyn, Sternzeichen Krebs, Rassist, Homosexuell – und er hat mit der Welt und dem Leben abgeschlossen. Toni hat sich ausschließlich vom Arbeiter Samariterbund transportieren lassen. Das war auch die einzige Organisation die sich (bzw. ihren Sanitätern) diesen Patienten angetan hat. Er hat das Sozialsystem missbraucht wie kein Zweiter. Ich kenne niemanden aus dem medizinisch/rettungsdienstlichen Bereich, der nicht zumindest eine Geschichte vom Toni kannte oder selbst schon über ein unangenehmes Erlebnis berichten konnte. So hat er in einem Krankenhaus vor den Röntgenbereich gekackt, Ärztinnen angespuckt und einem Sanitäter eine Hodenprellung zugefügt. Einfach so.
Bei der 80-Jahr-Feier des Arbeiter Samariterbundes am Rathausplatz kam er an allen drei Tagen der Feier und lag am Ende sturzbetrunken seitlich vom Wolfgang Ambros Konzert. Toni hat dort allerdings alle (inklusive der anwesenden Frauen) außerordentlich freundlich begrüßt, hat Sanitäter aus dem Fahrdienst, die privat dort waren, erkannt und mit seiner verkrüppelten Hand Glückslose gekauft – jedoch nichts gewonnen.
Man wusste von Toni nicht mehr als das, was er in seinen diversen Rauschzuständen erzählt hat. Nahe Angehörige waren offenbar nicht da. Einige wechselnde Sexualpartner hatte er über die Jahre verteilt. Zivildiener hat er gerne in seiner Wohnung eingesperrt und ihnen angedroht sie aufzuschlitzen oder ähnliches.
Privat habe ich Toni bei einem seiner unvergleichlichen Darbietungen auf dem Stephansplatz gesehen, wo er in einer Passage eben wieder einen Epi vorgespielt und dann die Sanitäter der Wiener Rettung wüst beschimpft hat, sie sollen ihn doch in Ruhe lassen. Er trug damals einen braunen Nadelstreifanzug und war überraschend gepflegt. Ich war so verwundert dass ich gleich meinen Freund anrufen und ihm das erzählen wollte.
In den letzten eineinhalb Jahren seines Lebens wurde es dann Still um Toni. Sein Geschwür am Bein machte ihm scheinbar zu schaffen, er war für immer längere Zeiträume in stationärer Behandlung. Auch seine diversen anderen Infektionskrankheiten zehrten an seiner Substanz. Im Alter von 45 Jahren ist er dann auf irgendeiner Station verstorben. Von seinem Tod hat man nur deshalb Notiz genommen, weil plötzlich die Einsätze auf der Mariahilferstraße und in seiner Wohnsiedlung ausgeblieben sind.

Toni hat mal einen Ausweis hergezeigt, auf dem er schockierend normal ausgesehen hat. Woher das verlebte Gesicht, der irre Blick, die labile Psyche und die massiven Körperlichen Schäden und Krankheiten gekommen sind: Man weiß es nicht. Er hat behauptet, es wäre die Epilepsie-Medikation, die ihn so zerstören würde.

Kein Nachruf. Kein „trotz allem hoffe ich, dass er einen friedlichen Tod hatte“ oder ähnliches Geplänkel. Toni war durch und durch bösartig und hat nichts hinterlassen, das auch nur Ansatzweise die Idee vom schrulligen, bärbeißigen, grantigen aber armen alten Mann aufkommen lassen könnte.

Bisher konnte dich niemand ersetzen. Wollen wir hoffen, dass es so bleibt.

Montag, 3. Januar 2011

Ersthelfermaßnahmen – „Du willst es doch auch!“ (Teil 2)


Jetzt also die essentiellen Fragen: Zu welcher Form von „erster Hilfe“ sind wir ohne tiefer schürfende Ausbildung gesetzlich verpflichtet?
Ich erspare uns den Paragraphenpassus. Es lässt sich darauf herunter brechen, dass wir die Rettung holen und beim Verletzten/Verunfallten/Verwasauchimmer bleiben müssen, bis die professionellen Ersthelfer vor Ort sind. Was wir in der Zeit machen ist fast egal. Mutwilliges Verletzen (denken wir an den Luftröhrenschnitt oder ähnliche Mätzchen die von Laien oder in präklinischer Umgebung quasi keinen brauchbaren Effekt haben) ist hierbei natürlich ausgenommen und sollte nicht zu unseren ersten Ideen zählen. Mit einer guten Portion Hausverstand zieht man so etwas aber hoffentlich auch gar nicht in Erwägung. Sollten Verletzungen entstehen, weil man die Person bergen wollte (ganz gleich in welcher Ausprägung) ist man auch hierfür nicht haftbar. Szenarien à la „ich traue mich nicht ihn anzufassen weil ich ihm das Genick brechen könnte“ oder ähnliches sind zu vernachlässigen. Es gilt „Leben vor Funktion“ und wir sind alle miteinander nicht in der Position zu entscheiden welche Verletzung für denjenigen individuell schlimmer ist oder ob dieses Leben dann noch lebenswert ist.

Viel naheliegender ist die Frage der moralischen Pflicht. Möchte ich nicht auch, dass mir jemand hilft (unvoreingenommen, nicht wertend) wenn es mir schlecht geht? Viele Leute ohne Bezug zur Materie „Notfallmedizin“ sagen, dass sie Angst haben sich mit Krankheiten zu Infizieren oder mit Erbrochenem in Berührung zu kommen.

Zum Thema Infektionen: Der, der sich beatmen lässt, muss Angst haben. Denn er hat keine Chance sich in seiner Situation in welcher Form auch immer zu wehren.

Zum Thema Erbrochenes: Ja, es ist eklig. Aber um zwei oder drei Euro lässt sich in der Apotheke ein Beatmungtuch erwerben, das man sich hinter die Kreditkarte und das Kondom in das Portemonnait stecken kann.

Und wenn man mit dem Gedanken, einen solchen körperlichen Kontakt zu einem fremden Menschen zu haben, gar nicht zurecht kommt, so kann man das Beatmen auch einfach weglassen und nur die Herzdruckmassage machen. Besser als nichts. Und es bringt alle mal etwas, da die Übersäuerung der Zellen ausbleibt, oder zumindest gemildert wird und der Gewebeschaden (der ja besonders am Gehirn zu tragen kommt) infolge dessen vielleicht sogar geringer ausfällt, als wenn man daneben sitzt und sich überlegt was Mitch aus Baywatch wohl gemacht hätte. Es lohnt sich also beim Erste-Hilfe-Kurs ein bisschen aufzupassen. Oder sich mal ein Lehrvideo auf Youtube anzusehen. Oder – ganz verrückte Idee – einfach noch einen Erste-Hilfe-Kurs zu machen. Die Breitenschulungskurse im Ausmaß von 16 Stunden werden sogar von der AUVA gefördert und sind mit einem Selbstbehalt von ca. 15 Euro günstiger als die sechsstündigen Kurse.

Fazit: Greift zu. Greift hin. Greift an. Es kann nichts passieren, außer, dass ihr vielleicht ein Leben rettet.


Samstag, 1. Januar 2011

Ersthelfermaßnahmen - ein Tabuthema (Teil 1)

Ein Teilbereich der rettungsdienstlichen Aktivitäten ist die Schulung von Laien für den Ernstfall. So müssen Führerscheinanwärter in Österreich einen sechsstündigen Erste-Hilfe-Kurs besuchen, der sie befähigt im Falle eines Unfalls Erste Hilfe leisten zu können. Soweit die Theorie.

Was lernt man also in einem solchen 6-stündigen Erste-Hilfe-Kurs?

Grob zusammengefasst das richtige Bergen und Reagieren in einer Unfallsitation. Zusätzlich noch eine kurze Einführung in die Baywatch-Disziplin "Reanimieren am Unfallort" und natürlich die Erklärung, warum es wichtig ist auf den, der am Boden liegt, draufzudrücken und reinzupusten.


Der typische Kursant ist ein 17jähriger Schüler, der diese sechs Stunden möglichst schnell hinter sich haben will. Der Kursleiter hat genaue Vorgaben an die er sich zu halten hat - wenn die Zeit und der Wissensdurst der Teilnehmer es erlaubt  kann man auch noch auf etwaige Fragen oder ähnliches eingehen. Und das war's meistens. Mehr Schulung oder sonstigen Input an Erste-Hilfe-Szenarien genießt der Durchschnittsbürger in seinem weiteren Leben nicht mehr. Sechs Stunden, die man auch nur opfert weil der Gesetzgeber das so sagt? Ja - traurig aber wahr: Mehr ist nicht vorgesehen. Ok, ein paar motivierte Menschen machen vielleicht noch einen 16-stündigen Breitenschulungskurs weil sie in einem Betrieb arbeiten der einen Ersthelfer benötigt, aber danach kommt eigentlich nichts mehr. Schockierend angesichts der Tatsache, dass unser Gehirn einen Zeitraum von plusminus einer Minute ohne Sauerstoff kompensieren kann. Danach sind Zellen oder ganze Areale irreparabel geschädigt. Und das alles nur, weil niemand da reingepustet oder draufgedrückt hat, während man auf die Rettung warten musste.

Wahllos ein Szenario aufgegriffen: Jacqueline trifft ihre Nachbarin im Stiegenhaus, diese klagt bei den Stufen über Herzschmerzen und fällt plötzlich um. Jacqueline hat vor 10 Jahren ihren Erste-Hilfe-Kurs im Zuge des Führerscheins gemacht und seither nie von den damals erworbenen Kenntnissen Gebrauch machen müssen. Und plötzlich bekommt sie die volle Breitseite. Jacqueline muss nun also feststellen ob die Nachbarin noch bei Bewusstsein ist und atmet. Wer kann sich nach 10 Jahren noch erinnern, wie eine Atemkontrolle aussieht? Und vorallem: Weiß Jacqueline noch wie eine suffiziente (also "wirksame") Atmung ausgeführt wird? Wie überprüft man den Bewusstseinsstatus? Und was rückschließt man aus der Reaktion des hilfsbedürftigen Menschen?
Bis Jacqueline bemerkt, dass sie aus dieser Situation ohne Fremde Hilfe nicht mehr rauskommt vergehen also zumindest zwei Minuten. Sie wählt die Notrufnummer 144 und hängt hier zumindest 15-20 Sekunden in der Warteschleife - realistisch ist aber eine Wartezeit von etwa 40 Sekunden bis eine Minute. Der Leitstellendisponent arbeitet sein Abfrageschema ab (nochmal eine Minute) und schickt unverzüglich eine Mannschaft mit Auto los. Diese hat am Tag eine Minute Zeit von der Alarmierung bis zum Losfahren (wir sind also mittlerweile von Nachbarins Zusammenbruch bis zum Zeitpunkt, an dem die Wagenmannschaft losfährt bereits bei zumindest fünf Minuten).
Wenn wir jetzt also optimistisch sind und auf das First-Responder-System eingehen, das da besagt dass in zehn Minuten ab Alarmierung ein Auto beim Patienten ist, gehen wir also von plusminus acht Minuten Anfahrtsweg aus. Kommt die Mannschaft an (und wir gehen weiters davon aus dass das Stiegenhaus aus unserem Beispiel sofort gefunden wird) dauert es zwei Minuten vom Aussteigen aus dem Auto bis zum ersten Handgriff am Patienten. In Summe haben wir also einen optimistischen Zeitraum von 15 Minuten vom kausalen Geschehen bis zum Eintreffen der professionellen ersten Hilfe.
Klar macht der Rettungsdienst die präklinische Versorgung und wird alles menschenmögliche tun, damit man die bestmögliche Prognose für den Patienten erarbeitet wird. Aber vielleicht hat Jacqueline in 15 Minuten entscheidende Handgriffe gemacht oder Maßnahmen gesetzt, die die Prognose der Nachbarin entsprechend verbessert haben.