Dienstag, 21. Juni 2011

Bloody Mary


Von mir behaupte ich ich wäre eine gute Sanitäterin. Courage, spezifisches Fachwissen, Allgemeinbildung, bliblobla – ich hab’s einfach drauf. Bloody Mary jedoch hat mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, weil nämlich alle Kompetenz für die Fisch‘ ist, wenn der Patient … nun, ich will mal sagen: auf mich scheißt. Nicht direkt physisch, aber viel hätte wohl nicht mehr gefehlt.
Wir sind also am Einrücken, das Garagentor öffnet sich gerade, da erzählt uns der Funk dass wir doch bitte noch zackig zu einer U-Bahn-Station fahren sollen – weitere Details erreichen uns ehebaldigst. Nun gut, wir waren ja ohne Ende motiviert und haben ja ohnehin nur drauf gewartet, endlich die große Action zu erleben. Pureboy und ich sind also zügig zur U6 gedüst und waren gespannt auf die Verletzung einer möglicherweise gefährlichen Körperregion. Auto ab, Handschuhe an, Aktivitätsmodus auf 100 Prozent – aber wo ist der Patient? Spinnensensoren, weibliche Intuition, Skill und Erfahrung haben gemacht, dass wir zufällig den richtigen Stiegenaufgang hochgegangen sind und da saß sie: Mary, die wir angesichts ihrer Verletzungen „Bloody Mary“ genannt haben. Mary hatte sich wohl im Zuge ihres Borderline-Syndroms (wobei ich dieses ernste Krankheitsbild ungern ohne psychologische Diagnose verwenden möchte) ein hübsches Kreuz in die Ellenbeuge und einige Kratzer in den Unterarm geritzt. Mit einer sauberen Rasierklinge, wie sie sagt. Um sie herum etwa 5-8 Ersthelfer, die sich redlich um die 150cm/35-kg Prinzessin bemüht haben und dabei sogar selbst mit Marys Blut besudelt waren, lieb auf sie eingeredet haben und sich dann doch von ihr beschimpfen lassen mussten. Als wir hinkamen, habe ich natürlich zunächst versucht nett zu sein. Ich will mich ja nicht um die Patientenkooperation bringen, will das alles möglichst entspannt zu Ende bringen und für alle Beteiligten einen stressfreien Umgang mit der Situation haben. Mary hat das aber nicht die Bohne interessiert. Ich denke, es war ihr sogar scheißegal. Jetzt also die Herangehensweise: Mary, was ist denn los? Was ist passiert und wo hast du dich überall geschnitten? Marys Antwort, die wir im Zuge des Einsatzes mehrfach zu hören bekommen haben: „Mir egal, geht’s scheißen!“.
 Gut, etwas mehr Nachdruck: „Mary, wir können dich so nicht dalassen. Die Leute hier haben sich sehr um dich bemüht, du kannst aber so nicht draußen herumlaufen und alles vollbluten. Möchtest du mal herzeigen was du gemacht hast?“
Mary: „Das ist mein Körper, ich kann machen was ich will!“
Ich: „Das ist vollkommen richtig, niemand will dir deinen Körper nehmen und du kannst in der Tat alles machen was du willst – aber nicht hier in der Öffentlichkeit, nicht so dass du andere Leute vollblutest und nicht so dass du bei dem Dreck mit offenen Wunden herumsitzt und den ganzen Dreck da reinlasst – aber sag mal, wie geht’s dir denn sonst? Hast du was getrunken, ist dir schlecht? Magst du irgendwas erzählen?“
Mary: „Mir egal, geht’s scheißen! Ich will nach Hause.“
Ahja, ok. Zwischendurch habe ich mich bei den Ersthelfern bedankt und ihnen angeboten, dass sie ohne weiteres gehen können oder sich mal bei uns die Hände grob reinigen. Mary lehnte inzwischen immernoch heulend an der Wand –jedoch durfte ich mittlerweile schon mal einen ersten Blick auf die Wunde werfen. Ich behaupte normalerweise immer, ich würde mit Terroristen nicht verhandeln (und Mary hätte sich definitiv ihren Platz als autonome Terrorzelle verdient) aber bei Mary war ein Vorankommen anders nicht möglich. Also habe ich gehofft, dass man auch mit kleinen Schritten ans Ziel kommt, und das wäre gewesen die Süße ohne Grobheiten oder sonstigen Anspannungen in eine Ambulanz zu bringen um die Wunden sinnvoll zu reinigen, die Ränder zu glätten und ggf. zu nähen. Begutachtungswürdig wäre es allemal gewesen.
Mary hat also die ganze Zeit gejammert dass sie uns alle Scheiße findet und wir alle voll die Spießer wären und sie doch machen könne was sie wolle und niemand versteht sie,… Nunja, mir ist dann der Kragen geplatzt, ich habe Mary an der Schulter gehalten und sie zu mir gedreht und  gesagt „Mary, niemand will dir was böses, wir Idioten sind alle nur da um dir zu helfen und von uns kann niemand was dafür dass es dir so schlecht geht. Aber wir wollen jetzt, dass diese Situation möglichst entspannt endet, und dass dir nichts schlimmes passiert, und darum wär‘s cool wenn ich jetzt wenigstens mal einen Verband machen kann, und dann sehen wir weiter!“.
„Ok“.
Moment, hat die Kleine gerade ernsthaft „OK“ gesagt? Unfassbar. Ich war glücklich. „Kannst du mithelfen?“ habe ich sie gefragt, um ihr die Möglichkeit zu geben selbst ein Stopp einzubauen oder eine Form von „Kontrolle“ über die Situation zu haben. „Ja klar“. Schon wieder war ich perplex. „Klasse, danke dir Mary!“. Ich habe vorsichtig versucht die Wunde abzutupfen, das Blut war weitestgehend gestockt und es war nicht dramatisch, hätte aber eben wirklich genäht gehört. „Halt mal den Arm hoch, drück mal hier drauf – so, wir sind fertig! Toll mitgemacht!“ – ich dachte schon wir wären über die bockige Phase hinaus, jedoch weit gefehlt. Nach Marys Erklärung, sie wäre immun gegen Schmerz und würde das öfters machen, habe ich ihr vorgeschlagen, dass wir – einfach um den ganzen Blödsinn hier abzuschließen – in ein Spital fahren, dann is sie in 1-2 Stunden jeden von uns „Idioten“ los und sie kann wieder tun was sie will, bloß so lassen darf ich sie nicht und ob sie das verstehen würde.
„Mir egal! Ich will jetzt gehen“
Ach du Scheiße… Nagut, ich will doch aber wieder zu dem Punkt zurück wo wir cool miteinander waren. „Ok Mary, zeig mir dass du gehen kannst und wir können drüber reden, aber ich glaube nicht…“ und Mary stand auf und lief los, die Stiegen runter, um die Ecke, bis zu den Fahrkartenentwertern, wo sie die Kurve nicht mehr gekriegt hat und dann wieder auf dem Boden lag. Grad als sie sich aufrappeln wollte, habe ich sie am Arm gepackt und gesagt „So, Schluss jetzt. Du setzt dich jetzt hier her und gibst mal Ruhe. Was soll denn das?!“
„Ich kenne meine Rechte, du darfst mich nicht festhalten! Ich will stehen bleiben.“
„Jap, richtig, darf ich nicht. Aber ich darf dich dran hindern dass du dich wie ein Idiot aufführst und es wär echt cool wenn wir das gechillt abhandeln könnten ohne dass wir uns so aufführen müssen. Also, wie schauts aus?“
Mary: „Ja, chill’ma halt!“
Ich: „Ok, dann..“
Mary: „Was ist das? Ich will das nicht!!!“ – Mary reißt sich den Verband runter und verlangt eine Zigarette.
Ich: „Mary, was soll die Scheiße? Ich dachte wir hätten einen Deal!“
Mary: „Mir egal, geh‘ scheißen!!!“
Ich: „Aha. Ok. Pass auf, wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Du benimmst dich, kommst mit uns in ein Krankenhaus und wir sind alle cool miteiandern, oder Variante zwei: Ich hol jetzt die Polizei weil ich mir nicht weiter anschauen werde wie du hier alle und alles vollblutest. Die Polizei legt dir dann die Handschellen an und dann ist überhaupt nichts mehr cool und entspannt sondern mir geht alles nur noch auf die Nerven. Also tu mir den Gefallen und erspar uns beiden diesen unnötigen Blödsinn“.
Ich muss gestehen, ich habe sicher schon ein bisschen geschrien obwohl so was eigentlich gar nicht mein Ding ist, aber ich wusste einfach nicht mehr weiter.
„Warum darf ich mit meinem Körper nicht machen was ich will?“ fragt Mary, die mittlerweile wieder weinend mit ihrer Zigarette in einer Nische gesessen ist.  
„Du kannst machen was du willst, aber mach so eine Scheiße zu Hause, dann interessiert es niemanden von uns. Hier bist du aber in der Öffentlichkeit und da geht so was halt nicht. Ich bin die letzte die dir irgendwas vorschreiben würde aber hier mach ich meinen Job und der ist, dass diese Wunde irgendwie verschlossen wird und nachdem du deinen Verband runtergerissen hast, muss ich davon ausgehen dass du den Ernst der Lage nicht verstanden hast und damit hast du deine Freikarte für „Ich mach was ich will“ verspielt. Also, was tun wir jetzt, Mary?“
„Krankenhaus“…
Huch, plötzlich wieder kooperativ? Ich hatte schon das Journal angewählt um einen Streifenwagen zu bestellen.
„Saugut. Möchtest du alleine gehen oder ist es ok wenn er dich stützt?“ und deute auf den Pureboy.
„Er kann mitkommen!“ – Nochmal saugut. Danke Mary! Ich lächle sie an und erzähle ihr wo wir hinfahren und was weiter passiert und dass sie jederzeit sagen kann wenn irgendwas nicht passt. Im Auto erzählt Mary dass wir Glück haben, dass sie so betrunken ist und Beruhigungsmittel genommen hat weil sie ein „Schlägerweib“ ist und Leute verprügelt wenn sie sie blöd anmachen, und dass sie bei einer 1-Euro-Münze das Innenteil mit nur einem Finger rausgeschlagen hat und das jetzt als Ring trägt. Ahja. Nagut. Auf Pureboys Fragen nach Name, Geburtstag oder ähnliches antwortet sie, dass sie ihre Rechte kennen würde und uns nix sagen muss, sie werde nämlich polizeilich gesucht und das ist ihr zu riskant. Mhm. Ok. Wir würden auch keine Ahnung haben was sie schon alles erlebt und durchgemacht hat. Ahja. Drama, Baby. Wo ist da Bruce Darnell, wenn man ihn braucht?
Im Krankenhaus übergebe ich der Aufnahmeschwester die liebe Mary, erzähle ihr eben was los ist, aber dass sie soweit jetzt kooperativ ist und eben mit etwas gutem Zureden und etwas Bestimmtheit durchaus macht, was nötig ist. „Mir egal, setzt‘ sie draußen hin!“
Schon wieder dieser Satz. Mary sage ich, sie soll sich mal kurz da drüben hinsetzen, es kommt dann gleich wer zu ihr. Mary bockt „Nein, ich will hier stehen bleiben!“ – „Ok, dann bleib stehen!“
Die Schwester kommt und fragt Mary nach ihrem Namen, Mary bockt wieder und sagt, dass das niemand etwas anginge. „Ja, mir egal, dann sagst du deinen Namen halt nicht!“ – „Mir auch egal, ich geh jetzt!“ krakehlt Mary und setzt an loszurennen. Ich packe Mary wieder am Arm und frage sie, ob das jetzt ihr Ernst wäre. Sie jammert wieder dass ich sie loslassen solle und dass ich das nicht dürfe und sie kenne ihre Rechte… -„Mary, du hast dir diverse Freikarten verspielt, du bist nicht mal Erwachsen, du hast keine Erwachsenenrechte und  du setzt dich da jetzt hin und gibst Ruhe und wirst dir das behandeln lassen und DANN – dann kannst du wieder machen was du willst aber das geht mir jetzt wirklich total auf die Nerven…!“ Bums, großer Fehler, so viel Schwäche zu zeigen und ihr so viel Macht zu geben. Naja, drauf geschissen, mal schauen wie sie…
„Mir egal!!!“
Boah, dieser Satz… „Mary, kannst du noch irgendwas andres sagen als ‚mir egal!!!‘ ? Ganz ehrlich, das ist dermaßen kindisch, und wo willst du jetzt vor allem hin? Du weißt doch nicht mal wo du bist!“
„Klar, ich fahr jetzt nach Hause. Wo ist hier die nächste U-Bahn?“ und dann lacht die Kröte auch noch.  Pureboy schaltet sich ein und sagt „Euda, Mary, du musst ja selbst schon lachen. Komm, sei nicht blöd, jetzt sind wir schon da…“ – Mary hat sich während wir geredet haben die ganze Zeit selbst die Wunde exzidiert und drauf herumgedrückt. Und plötzlich läuft sie los. Ziellos, in irgend eine Richtung. Rennt im Kreis einmal um die Unfallambulanz und Richtung Hauptausgang. Mhm. Mein fragender Blick Richtung Schwester hat dieser nur ein Schulterzucken und ein „Lasst sie halt gehen, wenn sie glaubt. Wir halten niemanden fest!“ entlockt.
Und dann sind auch wir gegangen. Unnötig, der ganze Mist. Außer Spesen nichts gewesen. Ich kann garnicht sagen wie unbefriedigend es ist, nur Material und Zeit zu verscheißen und dann zu wissen dass Mary jetzt vielleicht in irgend einem Gebüsch ihren Rausch ausschläft und in zwei Tagen wieder von irgendwem geholt wird. Auch wenn wir unter’m Strich nach Dienstende drüber gelacht haben: Traurig ist das schon, irgendwie.