Dienstag, 7. Dezember 2010

Aus dem Verbandskästchen geplaudert - Mein erstes Mal

Ich war stolz ohne Ende, als ich die Zwischenprüfung geschafft habe und sich sogleich dutzende Kollegen angeboten haben mich auf dem Auto mitzunehmen um mir die große Welt des Rettungsdienstes zu zeigen. Heinz – anno dazumal noch mein großes Vorbild – lud mich spontan zu einem Dienst ein und so ging die Geschichte also los. Gleich als der erste Einsatz kam – ich hatte ja keine Ahnung – fuhren wir mit Blaulicht. Nie werde ich vergessen wie aufgeregt ich hinten im Patientenraum gesessen bin und mir ausgemalt habe welche Dramen sich da abspielen, was die Berufungsdiagnose „akute Pneumonie“ wohl in Wahrheit sein wird. Werden wir reanimieren? Werden wir einen Notarzt brauchen? Was hat denn das Wort „Bettenstation“ zu bedeuten?
Übrigens kamen damals noch diese kleinen Kassenzettelchen neben dem Datenfunk raus, mit blassblauer Schrift stand der Name der Patientin da, die Casusnummer, die Adresse. Diesen Zettel habe ich heute noch, weil der Leitstellendisponent einen lustigen Kommentar dazugeschrieben hat. Einige Monate später war ich mit genau diesem Leitstellendisponenten liiert.
Wir sind also hingedüst, ich habe mich ein bisschen zurückgehalten um nicht im Weg zu sein. Die Patientin hatte eine ausgeprägte Kachexie, bekam schwer Luft, war vorbestehend nicht ansprechbar. Heute weiß ich dass es sich hierbei um die klassische Bettenstation-Patientin handelt.
Wir haben trotzdem mit ihr gesprochen, haben ihr erklärt dass wir mit ihr nun ins Krankenhaus fahren und dass sie wohl in ein paar Tagen wieder zurück sein wird. Plötzlich plärrt ein Pfleger von der Seite „Na, ich glaube nicht dass die noch mal zurückkommt…!“. Ich konnte nicht glauben, was ich da gehört habe. Heinz hat daraufhin zurückgeschrien dass der Pfleger doch bitte seinen negativen Scheiß wo anders loswerden möge und das nicht vor der Patientin und dem andren Personal (inkl. uns) tun muss.
Damals hätte ich aufgrund des inspiratorischen Stridors schon den Notarzt gerufen. Und wegen des schlechten Blutdrucks, des unregelmäßigen Pulses, dem schlechten Allgemeinzustand – das waren damals für mich alles Indikationen einen Notarzt hinzuzuziehen. Durch einen Pflegemissstand hatte Frau N. auch noch einen Dekubitus. Ich war also fertig mit der Welt und hätte ohne zu Zögern jeder unfreundlichen Leitstelle erklärt, dass diese Patientin auf jeden Fall einen Notarzt benötigt. Heinz hat mich davon abgehalten und mir mit Nachdruck erklärt, dass ich mir die Leute immer ganz genau anschauen solle. Wenn eine Patientin seit Wochen oder Monaten nur noch liegt und keine Bewegung mehr macht verschwindet die Muskulatur. Wenn eine Patientin eine derartige Krankengeschichte mitbringt: Wie soll die denn einen guten Allgemeinzustand haben? Oder Vitalparameter die im Bereich der Norm liegen?
Wir haben das ganze Programm rausgehaun. Durchgehend liegend transportiert, Oberkörper hochgelagert, Sauerstoff über Maske in die alten Alveolen gejagt, zügig aber schonend ins Krankenhaus gefahren. Während der Fahr habe ich mehrmals versucht den Puls zu tasten, ob ich ihn eh noch finde, ob er eh noch da ist. Im Krankenhaus angekommen haben wir eine Bilderbuchübergabe gemacht, die Schwester war ausgesprochen nett und hat uns beim Umlagern geholfen, damit unsere Patientin schnell wieder in ein Bett kommt. Wir haben den Transportschein abgestempelt, Frau N. gute Besserung gewünscht und sind rausgegangen. Alen und Heinz haben vor dem Auto eine geraucht. Ich stand da und habe darüber nachgedacht was mit Frau N. weiter passiert. Ob sich jemand um sie kümmert, ob jemand bemerken wird wenn sich ihr Zustand verschlechtert, ob es für Frau N. noch eine Heilung gibt.

Frau N. ist damals tatsächlich nicht mehr in das Pflegeheim zurückgekommen. Sie ist zwei Tage nach unserem Transport im Krankenhaus verstorben.

Heute denke ich noch oft an Frau N. zurück, nicht nur weil ihr Transport den Weg für eine Beziehung geebnet hat, sondern auch weil ich damals sehr viel in dieser kurzen Zeit gelernt habe. Wer nie auf einer Bettenstation war, kann unmöglich eine gut durchdachte und kritisch hinterfragte Meinung zur Sterbehilfe haben. Oder zum Umgang mit alten Menschen. Heinz’ Reaktion ist ein großer Teil meiner Einstellung zum Umgang mit Patienten, Kollegen und Krankenhauspersonal zu verdanken und ich hoffe sehr, dass ich diese auch meinen Praktikanten vermitteln kann.

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